Sonntag, 30. Juni 2013

Frohes neues Jahr!

Frohes neues Jahr!


Jene für europäische Ohren zu dieser Jahreszeit recht befremdlich klingende Aussage ist in Bolivien gang und gebe. Die Nacht vom 20. auf den 21. Juni - hier auf der südlichen Hemisphäre die Wintersonnenwende oder auch die längste Nacht des Jahres - leutet nämlich das neue Andenjahr ein. Zu den Gründen später mehr.

Der Plan: Meine bolivianische Gastschwester Grethel, meine Mitvolontärsgastschwester Barbara und ich steigen am Donnerstag, den 20.06, um sieben Uhr abends in einen Kleinbus, der uns bis ins Dorf Maragua fährt, von woaus wir nur noch den Rand des Vulkan- bzw Meteoritenkraters (einig sind sich die Geologen dabei bis heute nicht) besteigen müssen, um der indigenen Zeremonie zu Ehren des neuen Andenjahres beizuwohnen. Soweit die Theorie.

Und nun zu den wirklichen Geschehnissen: Wir kommen mit jeglicher bolivianischer Tradition brechend um Punkt sieben Uhr abends an der Sammelstelle für Kleinbusse an, müssen allerdings zu unserer Ernüchterung feststellen, dass jene um diese Uhrzeit schon längst nicht mehr fahren. In Bolivien ist zum Glück kein Abenteuerlustiger an dieser Stelle zur Umkehr verdammt, da man in der Regel per Anhalter zu fast jeder Uhrzeit zu fast jedem Ort gelangt - wie sich herausstellen sollte nur nicht in das gerade einmal drei Fahrstunden entfernte Maragua. Nach einer halben Stunde des Daumenhochhaltens, Schilderwinkens und Namenrufens hält endlich ein Lastwagen an, der angibt zumindest in Richtung Maragua zu fahren. Guten Mutes steigen wir in das warme Führerhäuschen und lassen uns durch die Dunkelheit kutschieren. Leider erreicht der Fahrer bereits nach zwanzig Minuten sein Ziel und wir müssen von dort nach einigen wagen Wegbeschreibungen die Reise zu Fuß weiterführen. Zum Glück erleuchtet uns der beinah volle Mond in dieser sternenklaren Nacht mit der Kraft einer Unzahl von Straßenlaternen den Weg und abgesehen von ein paar kläffenden Hunden, die uns jeweils ein Stück des Weges begleiten, bahnen wir uns ruhig unseren Weg durch die menschenleere Einöde. Zu unserem Glück kommt ein weiterer Lastwagen unseres Weges und nimmt uns bis zur Baustelle mit, wo er den frisch geladenen und noch nassen Flusssand ablädt. Diesmal ist im Führerhaus allerdings nur Platz für zwei, weshalb ich die Fahrt auf der Ladefläche verbringe.

Der hilfreiche Jose und meine Volontärsgastschwester Barbara


 Wieder zu Fuß unterwegs treffen wir auf die rastende Fahrgemeinschaft eines Taxis. Diese weist uns auf den nahen Inkaweg hin, der uns - einst für die laufenden Nachrichtenübermittler der Inka (Chasqui) erbaut - um einiges direkter voranbringt als die mäandrierende Straße. Somit verbringen wir die nächsten anderthalb Stunden auf den in Fels gehauenen Treppenstufen des Inkaweges und lassen viele beeindruckende Ausblicke hinter uns, als wir wieder auf der Straße ankommen und die nächste Häuseransammlung erreichen.

Auf dem Inkatrail mit meiner bolivianischen Gastschwester Grethel
Wir fragen nach dem Weg und werden von einer schlaftrunkenen Bäuerin in die falsche Richtung geschickt. Eine halbe Stunde später wird uns nach erneuter Nachfrage von einem angeheiterten Bauern erklärt, wie wir wirklich nach Maragua gelangen können. Wir wandern zwei weitere Stunden bei Wind und Kälte durch die menschenleere Dunkelheit ohne jegliches Zeichen von Zivilisation und passieren dabei mehrere Weggabelungen, die nicht Teil der Beschreibung waren. Wir machen erschöpft (wir hatten an dem Tag neun Stunden gearbeitet), an der Richtigkeit des Weges zweifelnd und durchgefroren Halt und treten nach kurzer Beratung desilusioniert sowie ohne Hoffnung unser Ziel rechtzeitig zu erreichen den Rückweg in Richtung Bauernhof an, um nicht der Witterung schutzlos ausgeliefert übernachten zu müssen. Beschämt wecken wir die Bäuerin ein zweites Mal auf, werden aber verständnisvoll und gastfreundlich an die Feuerstelle gebeten, wo wir uns aufwärmen und von der Bäuerin Geschichten anderer gescheiterter Wanderer und aus ihrem Leben zu hören bekommen.

Im Laufe des Gespräches stellt sich heraus, dass ihr Mann einen alten Pick-Up besitzt und auf Bitten hin fährt er uns nach Maragua. Übermüdet aber überglücklich kommen wir rechtzeitig vor Sonnenaufgang um fünf Uhr morgens in Maragua an und befinden uns nach einer halben Stunde Fußmarsch auf dem Rand des Kraters, wo rund 30 Frauen und Männer des Dorfes um Lagerfeuer geschart und unter den Klängen von Trommel und Panflöte den Sonnenaufgang abwarten.

Wir werden ohne großes Aufheben gastfreundlich an einem der Lagerfeuer aufgenommen und ernten beim Erzählen unserer Geschichte viele erstaunte Blicke. Da wir von den in der lokalen Sprache Quetschua geführten Gesprächen der Dorfmitglieder nur Fetzen verstehen, bleibt uns während des Aufwärmens genug Zeit, sich unserer Erschöpfung bewusst zu werden, die von beissender Kälte und rauem Wind bei Nacht sowie von sengender Sonne und der Arbeit auf den Feldern bei Tag gegerbten Gesichter der Dorfbevölkerung, eindrucksvoll von den Flammen angeleuchtet, zu betrachten und dem prächtigen Sternenhimmel mit etlichen Sternschnuppen seine verdiente Bewunderung zu zollen. Als es gegen halb sieben dämmert, stellen mehrere Männer mit vereinten Kräften den riesigen Topf auf das Lagerfeuer, in dem die beiden in der Nacht geopferten und gehäuteten Schafe noch eine ganze Weile kochen werden.
Die Feuerstelle beim Morgengrauen - schon mit dem überdimensionierten Kochtopf

Erst jetzt sehen wir, was die Nacht vor uns verbarg: auf dem Kamm des Kraters ist überall das Blut der dort traditionell geopferten Schafe vergossen, mitten drin die leeren Wein- und Singaniflaschen, deren Inhalt beim Ritual zu Ehren der Mutter Erde (Patschamama) geopfert wurde. Außerdem die beiden am Rand der Opferstelle aufgestellten Flaggen: Die Flagge Boliviens sowie die Whipala, die Flagge der indigenen Völker des Landes.
Nächtliche Opferstelle


Die Band

Kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen die nahen Bergkämme überwinden knien wir uns mit den Gesichtern in ihre Richtung einen Halbkreis formend auf den Boden und der männliche Priester preist den Sonnengott, der allem Leben Kraft spendet, den Tagesrhythmus der Menschen bestimmt, für gute sowie schlechte Ernten sorgt, über die Menschen wacht und ab diesem Tag wieder an Kraft gewinnt. Abschließend bittet er darum, dass die in kürze in Empfang genommenen ersten Sonnenstrahlen des Jahres einem jeden Kraft für das selbige geben mögen. Im Anschluss werden Kokablätter sowie Zigaretten aus purem schwarzen Tabak an alle Anwesenden - einschließlich Kinder - verteilt. Fleißig fangen auch wir an auf erlernte Weise die Kokablätter in unseren Backen verschwinden zu lassen - nur mit den Zigaretten tun wir uns ein wenig schwer. Währenddessen versprüht das spirituelle Oberhaupt Wein und Singani über die Opferstelle. Als der erste Sonnenstrahl auf unsere Häupter fällt, erheben wir alle unsere Hände und empfangen so die Energie des Sonnengottes; deren Wärme nach dieser langen und kalten Nacht besonders willkommen ist.



Zeremoniendiener beim Kokakauen

Links die Flagge Boliviens und rechts die Whipala

Die Menschen zerstreuen sich und der Großteil setzt sich auf die Steine des Kammes und lässt sich von der Wärme der Sonne durchdringen, die übrigen spielen ihre Instrumente oder beginnen damit, die Anwesenden becherweise mit selbstgebranntem Alkohol zu bewirten. Nach einer Weile bilden Männer sowie Frauen zwei Kreise, in deren Mitte sie mit bloßen Hände Fleisch sowie Organe von den Knochen des fertig gekochten Schafes lösen - ab diesem Zeitpunkt ist Frauen und Männern nur noch der Aufenthalt auf der ihnen zugeteilten Seite des Altares gestattet. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass die Dorffrauen gerade das Schaf verarbeiten, das sie in der Nacht geopfert haben, während die Männer selbiges mit einem Widder tun.
Ablösen von Fleisch und Organen

Der angerichtete Festschmaus

Kochtopf gefüllt mit dem auf vergorenem Mais besierenden Nationalgetränk "Chicha"

Des weiteren haben die Frauen dem trächtigen Schaf nach der Opferung seinen Embryo aus dem Uterus entnommen, der in der folgenden Zeremonie geopfert wird und für das neue Jahr besondere Fruchtbarkeit bringen soll. Die Männer hingegen haben dem Widder aus gleichem Grund die Hoden entfernt. Zu Embryo bzw. Hoden gesellen sich nun auf den beiden Tellern Zunge, Leber, Nieren sowie Herz der beiden Tiere. Für mich bemerkenswert im Verlauf der Zeremonie ist die religiöse Gleichberechtigung von Frau und Mann: So trinken, rauchen und opfern die Frauen nicht nur genauso wie die Männer, sondern stellen ebenfalls eine Priesterin, die in der folgenden Zeremonie eine wichtige Rolle spielt. Als alle Vorbereitungen getroffen sind und der Altar komplett ist (siehe Foto),
Die Priesterin

Der vollständige Opferaltar am Ort der Schafsopfer

Die speziell angeordneten Widderknochen kurz vor ihrer Verbrennung


knien wir uns in bekannter Formation wieder auf die Erde und dieses Mal huldigt die Priesterin dem Sonnengott und verteilt Kokablätter sowie Zigaretten. Nach der darauf folgenden emotionalen Ansprache, bei der den Tränen freien Lauf gelassen wird, werden die Knochen der beiden Opfertiere verbrannt und verschütten alle Dorfbewohner Wein und Singani über den Altar. Die Zeremonie endet in einem gemeinsamen Festmahl, das aus den geschlachteten Schafen, Mote (lange aufgequollenem Mais), Kartoffeln und dem kanisterweise fließenden Alkohol besteht. Wir bedanken uns herzlich bei der Dorfgemeinde, wünschen ein neues Jahr frei von jeglichen Mangel und sind überglücklich in einem Dorf ohne Auto, Marktplatz oder Polizeistation einen Viehtransporter zu finden, der uns am Mittag nach Sucre mitnimmt. Kostenpunkt des gesamten Unternehmens: 46 Bolivianos oder rund 5€.
Panorama des Kraters von Maragua

Auf der Ladefläche des Viehtransporters

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